Umweltschadstoff Blei: Ist die Gefahr gebannt?

C. Hagner, F. Feser, M. Costa-Cabral, H. v. Storch, Institut für Küstenforschung, GKSS-Forschungszentrum, Geesthacht

Blei ist ein hervorragendes Fallbeispiel für ein plötzlich wahrgenommenes Umweltproblem und die politische Reaktion darauf. Wie hat sich die Bleibelastung in der Umwelt langfristig entwickelt und hat die Politik angemessen reagiert?

Die Politik erkennt das Umweltproblem Blei. Gewinner und Verlierer?

Die Massenmobilisierung in den 1950er und 60er Jahren in Europa führte zu einem rapide wachsenden Benzinverbrauch und damit zu einem steilen Anstieg von Bleiemissionen durch den Kraftverkehr. Doch erst Anfang der 70er wurden in Europa Umweltschutzprogramme verabschiedet, um die zunehmende Luftverschmutzung, eine latente Gefahr für Mensch, Tier und Pflanze, zu reduzieren. Obwohl die Frage der Gesundheitsgefahren durch Blei in der Luft wissenschaftlich noch umstritten war, wurden in Deutschland 1972 und 1976 gesetzliche Maßnahmen zur Reduktion von Bleiemissionen verabschiedet. Ab 1.1.1972 war sowohl die Produktion als auch der Import von Benzin mit einem Bleigehalt von mehr als 0,4 g/1 verboten. Ab Janaur 1976 wurde der Bleigehalt im Benzin auf maximal 0,15 g/1 vermindert. Bleifreies Benzin wurde in Deutschland 1985 eingeführt. In der Europäischen Gemeinschaft wurde der Bleigehalt erstmals in 1978 auf 0,4 g/1 reduziert. Die Bereitstellung von bleifreiem Benzin wurde innerhalb der Europäischen Union erst 1989 vorgeschrieben.

Aus ökonomischer Sicht waren vor allem Autofahrer, Kfz-Hersteller, Raffinerien und Tankstellen von den neuen Regelungen zur Emissionsminderung betroffen. 1972 konnten die Raffinerien in Deutschland einen Anstieg der Produktionskosten vermeiden, indem sie Überkapazitäten abbauten. 1976 war der Kostenzuwachs in Abhängigkeit von der Art der Produktionsanlage unterschiedlich hoch. Durch Steuervergünstigungen wurden zu dieser Zeit negative Auswirkungen auf den Verbraucherpreis vermieden. In 1985 war die Mineralölindustrie infolge innovativer Produktionstechnologie in der Lage, bleifreies Benzin ohne Zusatzkosten zu produzieren. Die Einführung des Katalysators ab 1985 führte wegen der unterschiedlich hohen Kosten beim serienmäßigen Einbau zu Wettbewerbsverzerrungen auf dem europäischen Automobilmarkt. Einzelne Hersteller von Kfzs, die zum Beispiel Automobile im gehobenen Preissegment anboten oder bereits durch Exporte auf den amerikanischen Markt umfangreiche Erfahrung mit der neuen Technik gesammelt hatten, konnten ihre Marktanteile deutlich ausweiten. Besonders mittelständische, freie Tankstellen waren nicht in der Lage die Investitionen aufzubringen, um ihr Angebot um bleifreies Benzin zu erweitern. Infolgedessen wurde der Konzentrationsprozess im Distributionssystem verstärkt.

In den 80er Jahren dominierte das Problem Waldsterben die Diskussion um Luftverschmutzung. Durch die Einführung des Katalysators erwartete man eine signifikante Reduktion der Kfz-Emissionen, die als Ursache des Waldsterbens betrachtet wurden. Wiederum drängte vor allem Deutschland auf eine europäische Gesetzgebung über Kraftfahrzeuge mit niedrig emittierenden Abgassystemen und die Einführung bleifreien Benzins, denn Bleiadditive im Treibstoff würden Katalysatoren zerstören. 1984/85 wurden in Deutschland zwei Gesetze zur Reduktion von Kfz-Emissionen und die Einführung von bleifreiem Benzin verabschiedet. Dieser deutsche Alleingang wurde von den Autoherstellern bekämpft, die hohe Exportverluste befürchteten. Doch erst 1989 verpflichtete die EU-Kommission die Länder, bleifreies Superbenzin anzubieten und empfahl, den Benzin-Bleigehalt europaweit zu senken. Die Reaktion der EU-Staaten war sehr unterschiedlich. In Italien und Großbritannien wurden die Bleiemissionen frühzeitig gesenkt. Obwohl Frankreich innerhalb der EU der größste Emittent war, wurden diese Schwermetallemissionen erst ab 1989 reduziert.

Jährliche Bleiemissionen europäischer Länder

Das Emissionsniveau und dessen Reduktion zeigen deutliche Unterschiede in Europa.

Möglicherweise war die Umweltschutzbewegung in Frankreich schwächer als in anderen europäischen Ländern. Vor allem die französische Automobilindustrie versuchte gesetzliche Emissionsreduktionen zu verhindern weil sie Exportverluste befürchtete. Frankreich exportierte zu dieser Zeit vorwiegend Kleinwagen, deren Verkaufspreis durch den Einbau von Katalysatoren überdurchschnittlich ansteigen würde.

 

Die Atmosphäre als Träger von Umweltschadstoffen

Im "Bleiprojekt" des GKSS-Forschungszentrums wurden zunächst die europäischen Bleiemissionen seit den späten 50er Jahren abgeschätzt. Bleiemissionen werden in den unteren Schichten der Atmosphäre durch Wind verteilt und gelangen durch Niederschlag und Ablagerungsprozesse auf Land- und Meeresoberflächen. Diese Prozesse wurden mit einem Stofftransportmodell simuliert. Die hierfür notwendigen atmosphärischen Bedingungen von 1958 bis heute beruhen auf vom US National Center for Environmental Prediction (NCEP) rekonstruierten Wetterdaten.

Unterschiedliche Auflösungen des Global- und Regionalmodells

Die Auflösung im globalen NCEP-Modell (links) von ca. 200*200 km wurde im Regionalmodell auf 50*50 km verfeinert.

Da die Auflösung von etwa 200 x 200 km zu gering ist, um den Transport und die Deposition von Blei über Europa zu berechnen, wurden diese globalen Modellwerte mit einem Regionalmodell verfeinert aufgelöst (50 x 50 km).

Die Hauptaufgabe der Regionalisierung besteht darin, die großräumigen Gegebenheiten

beizubehalten und Information im kleinräumigen Bereich hinzuzufügen. Allerdings kann es mit dieser Methode vorkommen, dass das Regionalmodell großräumige Wetterphänomene neu berechnet und so zu unterschiedlichen Ergebnissen im Vergleich zu den Antriebsdaten kommt. Deshalb wurde im Bleiprojekt das sogenannte "spektrale Nudging" entwickelt. Diese Technik schreibt dem Regionalmodell zusätzlich zu den Randdaten die großräumigen Wettercharakteristika der Eingangsdaten auch im Innern des Modellgebiets vor, so dass hier Abweichungen vermieden werden.

Vergleich des Windes im Regionalmodell und Satellitendaten

Die Windvektoren des Regionalmodells sind rot, die des Satellitenbildes blau. Simulations- und Beobachtungsdaten stimmen gut überein.

Um die Simulationsergebnisse zu überprüfen, wurden eine Reihe von Vergleichen mit Beobachtungsdaten erstellt. Der Vergleich des Windes in 10 m Höhe über Rügen zwischen dem Regionalmodell und aus Satellitendaten gewonnenen Windfeldern vom 12. August 1991 zeigt, dass z.B. die Windrichtung beider Datensätze gut übereinstimmt. Dieser atmosphärische Datensatz ist so weit bekannt der längste bisher berechnete regionale Klimadatensatz. Er umfasst sämtliche üblicherweise benötigten meteorologischen Größen im stündlichen Abstand von 1958 bis 1997.

Transportsimulation als Ersatz für Beobachtungen

Jährliche Bleikonzentrationen in der Atmosphäre

Der Bleigehalt steigt bis 1975 stark an und sinkt in den folgenden Jahren deutlich ab.

Blei ist in der Atmosphäre an Schwebstoffe gebunden und kann mit ihnen durch die großräumigen Windsysteme über weite Strecken transportiert werden.

Die Deposition des Umweltschadstoffs auf der Erdoberfläche oder dem Meer wird durch Niederschlag verstärkt. Die Ausbreitung von Blei wird durch ein atmosphärisches, massenerhaltendes Stofftransportmodell simuliert. Die berechneten Bleikonzentrationen zeigen einen deutlichen Anstieg in den Jahren bis 1975 und einen deutlichen Abfall ab 1985. Leider gibt es kaum vergleichbare Beobachtungen über lange Zeiten.

Allerdings bieten Hochmoore, in denen über die Jahre ohne größere vertikale Umlagerungen Bleidepositionen "archiviert" werden, eine gute Möglichkeit der Validierung der Modellergebnisse.

 

 

 

 

 

Ein Vergleich der simulierten Depositionen mit einem in Dänemark gezogenen Hochmoorkern zeigte eine sehr gute Übereinstimmung des zeitlichen Verlaufs, während die absoluten Werte sich um bis zu einem Faktor 2 unterscheiden.

In den 1980er und 90er Jahren wurden in verschiedenen Studien die Bleidepositionen über der Ostsee gemessen.

Bleideposition im Moor

Messungen in einem Bohrkern (rot) und Simulationsergebnisse des Modells (blau) zeigen einen ähnlichen Verlauf.

Bleideposition über der Ostsee

Beobachtungsdaten verschiedener Studien liegen nah an den 40 jährigen Modellergebnissen.

Ein Vergleich mit den Simulationsergebnissen bestätigt ebenfalls, daß das Transportmodell die Realität gut nachbilden kann.

Darüberhinaus können Schätzungen über die Höhe der Schadstoffdeposition für Zeitpunkte und über lange Zeiträume berechnet werden, zu denen keine Beobachtungsdaten vorliegen. Dies ist der Hauptgewinn von Modellschätzungen gegenüber Beobachtungsstudien.

Bleibelastung in Organismen – war die Umweltpolitik erfolgreich?

Kann der Rückgang der Bleiemissionen in Deutschland in verschiedenen Umweltsystemen nachgewiesen werden?

Messdaten über die Bleikonzentrationen in einem Ballungsraum und einem ländlichen Gebiet in den Jahren 1986 - 1995 zeigen, dass die Schwermetallkonzentrationen in der Luft im städtischen Bereich infolge der höheren Kraftfahrzeugdichte deutlich über denen im ländlichen Gebiet liegen. Durch die Reduktion des Bleigehalts im Benzin sinkt, wie erwartet, die Bleikonzentration im Zeitablauf in beiden Gebieten – innerhalb von 4,5 Jahren um die Hälfte.

Eine vergleichbare Entwicklung der Bleibelastung kann man auch bei Pflanzen beobachten.

Bleikonzentrationen in Sprossen und Blättern

Der Bleigehalt in Pappelblättern (grün) und Fichtennadeln (rot) sinkt stark ab (Meßdaten der Umweltprobenbank).

In den Jahren 1985 bis 1996 sinken z.B. die Bleigehalte in Fichtennadeln (Picea abies) und Pappelblättern (Populus nigra) im Saarland.

Dies gilt jedoch nicht für marine und aquatische Lebewesen. Daten über Bleikonzentrationen in Miesmuscheln (Mytilus Edulis) des Niedersächsischen Landesamts für Ökologie in der Nordsee in den Jahren 1982 - 1997 variieren zwar stark, zeigen jedoch keinen Rückgang der Bleibelastung.

Eine weitgehend konstante Bleikonzentration wurde in den 1980er und 90er Jahren auch in Fischen der Elbe und Nordsee festgestellt. Die unterschiedliche Reaktion von terrestrischen und marinen bzw. aquatischen Lebewesen lässt sich durch die unterschiedliche Aufnahme von Blei erklären.

 

Während Pflanzen an Land Blei durch die Luft aufnehmen, d.h. von der atmosphärischen Bleikonzentration abhängig sind, wird die Bleikonzentration in Muscheln und Fischen durch den Bleigehalt in Schwebstoffen und Sedimenten bestimmt. Diese sind im Gegensatz zur Atmosphäre Langzeitspeicher für Blei.

In den Jahren 1979 - 1997 wurde in mehreren Studien der Bleigehalt im Blut verschiedener Gruppen der deutschen Bevölkerung gemessen.

Ein Vergleich der Studien zeigt, daß die Bleikonzentrationen nach Ansicht deutscher Experten nicht gesundheitsgefährdend waren.

Bleikonzentration in Miesmuscheln

In aquatischen Organismen ist das Niveau der Bleibelastungen im Zeitablauf konstant.

Bleikonzentration im Menschen

Seit den 70er Jahren sinken die Bleikonzentrationen im Blut des Menschen (m g Pb/l Blut). Die Meßdaten wurden vom der Human-Probenbank erhoben.

Dies gilt auch für die geschätzten Blutbleikonzentrationen, die bis in das Jahr 1958 zurück berechnet wurden.

Selbst in den Jahren der Spitzenbelastung - Anfang der 70er Jahre lagen die Schätzungen der Blutbleiwerte unterhalb dem von der Human-Biomonitoring-Kommission 1995

definierten Grenzwert, ab dem eine Gesundheitsgefährdung vorliegen könnte. Die deutschen Experten gehen davon aus, dass Kinder bei einem Bleigehalt im Blut von <150 m g Pb/l bzw. <250 m g Pb/l bei Erwachsenen, gesundheitlich nicht gefährdet sind. Aus ihrer Sicht ist die Einführung des bleifreien Benzins in 1985 als Vorsorgemaßnahme zu bewerten und nicht mit einer akuten Gesundheitsgefahr für die deutsche Bevölkerung zu begründen. Dem widersprechen jedoch Wissenschaftler aus den USA. Sie stellen in ihren empirischen Studien fest, dass die intellektuelle Entwicklung von Kindern bereits bei einem Bleigehalt von 100 m g Pb/l im Blut beeinträchtigt ist.

Heute liegt die Bleibelastung des Menschen in Westeuropa auf einem Niveau weit unterhalb von medizinisch relevanten Grenzwerten. Dies gilt jedoch nicht für Entwicklungsländer. Dort ist vorallem die Bevölkerung der "Megastädte" von hohen Bleiemissionen betroffen. So wurden nach Berichten der Weltbank z.B. in Bangalore 185 m g Pb/l (1984), in Bangkok 400 m g Pb/l (1990), in Manila 235 m g Pb/l (1994) und in Kairo 300 m g Pb/l (1994) im Blut von Stichproben aus der Bevölkerung gemessen.

Fazit

Am Fallbeispiel Blei wurde erfolgreich ein "Modellbaukasten" aufgebaut, mit dem langfristig die Konzentration und der Transport von Umweltschadstoffen in der Vergangenheit und in der Zukunft geschätzt werden kann. Ist die Gefahr einer Bleivergiftung der Umwelt nun gebannt? Die Rekonstruktionen haben gezeigt, dass die Bleibelastung in der Atmosphäre bis in die 70er Jahre deutlich angestiegen ist. Seit diesen Jahren jedoch sind die atmosphärischen Bleikonzentrationen infolge der Reduktion des Bleigehalts im Benzin, der Hauptquelle der Bleiemissionen, gesunken. Analog dazu sind auch die Bleibelastungen in den Organismen zurückgegangen, die Blei hauptsächlich aus der Luft aufnehmen – in den Landpflanzen und dem Mensch. Diese positive Entwicklung gilt jedoch nicht für Böden und Sedimente, die Langzeitspeicher von Blei sind. Dort wird Blei in chemischen Komplexen fest eingelagert und angereichert. Über die Nahrungskette gelangt Blei aus den Sedimenten in aquatische Lebewesen, deren Belastungsniveau in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben ist. Das heisst die "Bleipolitik" in Europa ist aus ökologischer Sicht teilweise erfolgreich gewesen. In Europa stellt Blei für den Mensch keine Gefahr mehr dar. Weltweit jedoch wächst das Problem der Bleibelastung der Bevölkerung vorallem in den Ballungsgebieten der Entwicklungsländer.

Aus ökonomischer Sicht waren die europäischen Maßnahmen zur Reduktion des Bleigehalts im Benzin sinnvoll, denn sie belasteten die Volkswirtschaft kaum. Es ist nun wichtig, den "Modellbaukasten" und die Analyseinstrumente auf in Zukunft relevante Umweltschadstoffe, wie zum Beispiel persistente, organische Schadstoffe, anzuwenden.